Pfarrer i.R. Jürgen Flinner zum 40 jährigen Jubiläum
der Kirche „Zum Guten Hirten“ am 27. 06. 2010

 
 

Liebe festliche Gemeinde, liebe Festgäste,
vor etwa einem Vierteljahr rief mich Pfarrer Plesch an und fragte, ob ich Zeit, Lust und die Gesundheit hätte, um die Festpredigt zu halten anlässlich des 40 - jährigen Bestehens der Kirche „Zum guten Hirten“ in Tiefenbach.
Ich sei der Einzige, den man ausfindig machen konnte, der die ersten Jahre der neuen Kirche als Vikar erlebt hat und ich müsste so um die 70 Jahre alt sein. – Ich bin 1942 geboren. –
Ja, ich wusste sofort, da kann und will ich nicht nein sagen. Schließlich ist das doch ein ganz großer Vertrauensbeweis. Ob ich dem entsprechen kann, weiß ich nicht. Ich versuche es.
Herr Pfarrer Plesch meinte noch, ich könnte die Festpredigt ganz nach meinen Vorstellungen halten – ob ich Anekdoten von damals erzählen wolle oder ganz normal einen Bibeltext auslegen wolle oder ganz was anderes machen wolle. Alles sei möglich.
Mein Problem: Ich hatte noch nie eine Festpredigt zu einem Kirchenjubiläum gehalten. Vielleicht merkt man das heute!
Kurz nach dem Telefongespräch sind mir dann sofort einige wenige Namen von damals eingefallen, die ich mit der Kirche „Zum guten Hirten“ verbinde.
An erster Stelle, es kann nicht anders sein, fiel mir Herr Ullmann ein, der Motor des Kirchbauvereins damals und später des Glockenturms. Ich denke, es ist nicht übertrieben zu behaupten: ohne ihn hätte Tiefenbach wohl kaum eine Kirche „Zum guten Hirten“ bekommen und ohne ihn säßen wir heute nicht hier und würden 40 - jähriges Jubiläum feiern.
Dann ist mir Herr Koch eingefallen, er war ein ausgesprochen rühriger Mesner und immer nett und sehr hilfsbereit.
Auch der Name Frau Heumader ist mir sofort eingefallen als treues Gemeindeglied und eifrigste Kirchenbesucherin. Ich habe sie immer mit meinem Dienst VW Käfer in Haselbach abgeholt und sie hat stets für mich, den jungen Vikar, ein freundliches Wort gehabt.
Und dann die Reinhilde Kämpf und der Siegfried Florschütz, das waren zwei unserer damaligen Jugendlichen, mit denen wir, meine Frau und ich, eine Jugendgruppe aufbauen wollten. Und an eine Familie Petersen erinnere ich mich noch, mit drei oder vier Kindern, die aber bald schon aus beruflichen Gründen wieder zurück nach Norddeutschland zog. –  –  –
Dann, einige Wochen nach Pfarrer Pleschs Anruf, musste ich mir Gedanken machen, wie die Predigt aussehen soll. Ein paar Anekdoten sind mir eingefallen, so für den Anfang. Und gleich hatte ich auch Ideen für den Schlussteil. Vier „Schlussworte“ schienen mir passend. (Mal sehen, wie wir zeitlich hinkommen.)
Aber der Hauptteil, das Eigentliche! Auch da hatte ich bald eine Idee, aber wie mit dem Jubiläum in Verbindung bringen?
Und eine Predigt muss eine frohe Botschaft enthalten, ein Evangelium. Inzwischen war ich selbst da zuversichtlich.
Nur, vielleicht – eine andere Sorge – enthält meine Predigt zuviel Persönliches und manches zwei-, dreimal Gesagte und auch Sätze, die nicht gefallen und für manche ärgerlich sind.
Herr Pfarrer Plesch, das ist das Risiko, wenn Sie mir freie Hand gelassen haben.
 Also der Anfang!
Am 28. Juni 1970 wurde dieses Gotteshaus eingeweiht. Am 1. September 1970 wurde ich Vikar für den Sprengel Tiefenbach, Tittling, Fürstenstein, so hieß das damals.
Ein paar Erinnerungen!
Am Reformationsfest 1970, am 1.11., hielt ich die bis heute längste Predigt meines Lebens, die einzige gänzlich frei gehaltene Predigt: 40 Minuten !! Ich habe nie mehr völlig frei gepredigt.
 (weggelassen: Der Gottesdienstbesuch in den ersten Jahren hier in Tiefenbach war hervorragend; fast in jedem Gottesdienst waren 40 - 50 Gottesdienstbesucher da. Leider keinerlei Harmonium oder gar Orgel. Aber zum Glück hatte ich eine recht kräftige Stimme mitbekommen und oft bekannte Lieder aus-gesucht.)
 Im Nachhinein ganz schön arrogant: Wir jungen Vikare – wir waren die 68 er Generation – hatten uns damals geschworen, an Heilig Abend niemals „Stille Nacht“ zu singen. „Holder Knabe im lockigen Haar“, das passt nicht zu ärmlichen Stall und Krippe, haben wir argumentiert. Und wir haben es auch nicht getan! Keine „Stille Nacht“ an Heilig Abend!!
Heute finde ich das, wie gesagt, arrogant und lieblos und egoistisch.
 Am Buß- und Bettag 1971, am 17.11., ist mir etwas furchtbar Peinliches passiert. Ein Beichtgottesdienst sollte stattfinden, aber ich hatte die Agende für den Ablauf der Beichte zu Hause vergessen. Nochmal nach Hause fahren ging zeitlich nicht.
Das sagte ich Herrn Ullmann und auch noch, dass ich kurz nachdenken müsse, wie der Ablauf sei. Herr Ullmann sagte dann der Gemeinde: Der Herr Vikar hat alles zu Hause vergessen und es kann noch dauern. Mit dem Ablauf kam ich zurecht, nur sind mir von den drei Beichtfragen nur zwei eingefallen. Die eine: „Bekennst du, dass du gesündigt hast, und bereust du deine Sünden.“ die zweite: „Glaubst du auch, dass die Vergebung, die ich dir zuspreche, Gottes Vergebung ist.“ Dann musste die dritte Frage kommen und mir fiel sie einfach nicht ein. Es war nichts zu machen. In meiner stillen Verzweiflung fragte ich dann: „Glaubst du auch wirklich, dass die Vergebung, die ich dir zuspreche, Gottes Vergebung ist, so antworte Ja.“
Ich bin fast in den Boden versunken, aber die Gemeinde war sehr lieb zu mir. Niemand schmunzelte oder blickte verwundert. Die Würde der Beichte war gerettet. Die andere Frage wäre gewesen: „Begehrst du die Vergebung deiner Sünden im Namen Jesu Christi.“ Ich habe sie nie mehr vergessen!
Einige Jahre später habe ich hier noch einmal Gottesdienste gehalten, Taufgottesdienste für die Töchter von hiesigen Freunden, eine als mein Patenkind. Ja, schöne Erinnerungen!
 Und nun zum Wichtigen und Eigentlichen und zur frohen Botschaft. Überschreiben könnte ich das etwa so: Von der „Gnadentheologie“ zur „Gute Hirtentheologie“. Oder: Wie ich zum „Gute-Hirten-Theologen“ wurde.
Auch das zunächst ziemlich persönlich. Ich muss ausholen. Es hat wohl in meiner Kindheit und Jugend - übrigens kirchlich und fröhlich - angefangen, dass in mir ein sehr schönes Gottesbild wuchs. Das Bild eines barmherzigen, gütigen, liebevollen Vaters.
Am Anfang des Studiums hatte ich nächtelange heiße Diskussionen angezettelt mit meiner These vom alles in allem vergebenden gütigen Gott. „Billige Gnade“ wurde mir vorgeworfen. Ich suchte bei den großen Theologen, ob ich irgendwo meine Überzeugung wiederfand. Bei dem Kirchenvater Augustinus fand ich den Gedanken, sogar bei Karl Barth gab es Anklänge. (weggelassen: Obwohl ich sonst fast nichts Griechisches mehr weiß, den griechischen Begriff meiner Überzeugung habe ich damals kennen gelernt und kenne ihn noch heute: „Apokatastasis panton“ (die Heimholung aller ).
Dann gab es einige Jahre keine heißen Diskussionen mehr, bis ich ein Buch - ich weiß nicht mehr von wem empfohlen - in die Hände bekam, das mir, was meine Gottesvorstellung anging, unheimlich gefiel: Hanna Wolff: Neuer Wein - alte Schläuche, (Radius Verlag, 1985)
Es war zum Teil auch schmerzlich. Vieles, was ich mir mühsam theologisch zusammengedacht hatte, geriet ins Wanken. Dass Jesus eine ganz andere Gottesvorstellung gehabt habe als die des richtenden Herrschers oder gerechten Richters, das gefiel mir noch. Aber dass auch mit dem „gnädigen Gott“ „aufgeräumt“ wurde, war schwer für mich. Damit war für mich der so positiv verstandene „gnädige Gott“ Luthers und das „sola gratia“ (durch Gnade allein!) des Paulus ins Wanken geraten. Ich lernte, dass der Begriff  „Gnade“ bei Jesus überhaupt nicht vorkommt, bei Paulus aber im Zentrum steht. Das war mir nie aufgefallen und überraschte mich völlig: Jesus spricht nie vom gnädigen Gott!! Und ich lernte auch, dass „Gnade“ eine Gesetzesreligion und Richtervorstellung voraussetzt. Ein Patriarch, der von oben herab sich gnädig gibt.
Was bleibt mir dann noch, wenn mir der „gnädige Gott“ genommen wird, dachte ich.Ganz am Ende des Buches - es war für mich wie eine Erlösung - kam dann endlich das, worauf ich innerlich gehofft und was mir bisher in dem Buch gefehlt hatte: das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg mit dem Schlusssatz: „Seid ihr neidisch, / Sehr ihr scheel, weil ich so gnädig?, nein!  weil ich so gütig / großzügig bin“. Das wunderbare, großartige Gleichnis vom verlorenen Sohn mit dem am Ende liebevoll umarmenden Vater / Gott. Und ich füge hinzu das „Gleichnis“ vom guten Hirten und Jesu Wort „Ich bin der gute Hirte“. Diese drei Beispiele haben mir deutlich gemacht: Gott / Jesus ist für die Menschen da, er sorgt sich um sie, er sucht sie! Und nicht nur die Guten und Gerechten. Jesus sagt sehr schön: „Gott läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“
Und kein „gnädiger Gott“!
Und ich kann mir auch keinen „gnädigen“ guten Hirten vorstellen. Das Altarbild gefällt mir deshalb sehr gut. Es drückt für mich fast liebevolle Zärtlichkeit aus. Und von alleine kommt: „Der Herr ist mein Hirte“: Gott (Psalm 23) und  „Ich bin der gute Hirte“: Jesus (Joh. 10,11)
Noch ein Zitat aus dem erwähnten Buch (von Hanna Wolff):
Dem patriarchalischen Gott ging es eigentlich immer nur darum, dass die Menschen ihm gehorchen, ihn ehren, ihn fürchten, ihm dienen, ihm danken und sich vor ihm demütigen nach dem Grundsatz: Der Mensch ist für mich da.
Zum Gottesbild Jesu gehört jedoch die erstaunliche Tatsache: Gott selbst wirbt um unser Vertrauen.
Es geht ihm nicht um unseren Gehorsam, es geht ihm um unser Herz.   (S. 208)
 Ja, das hat Spuren hinterlassen in meiner Theologie, in meinem Glauben, in meinem Leben.
Dieses Gottesbild, das war es: Nicht richtender Herrscher oder gerechter Richter, nicht gnädiger Patriarch, sondern liebevoller, erbarmender, gütiger, fast mütterlicher Vater.
Oder so – Sie merken hier fließt Herzblut bei mir – Gott sucht das Verlorene, wie ein guter Hirte. Er kümmert sich um die Menschen. Sie sind ihm wichtig. Und er will sie nicht klein machen, ducken sondern groß machen, aufrichten zu einem erfüllten Leben. Und Jesus schlägt es so als Beispiel für uns Menschen und für die Kirche vor: nicht Angst machen und Macht ausüben, sondern sich liebevoll kümmern!
„Gott ist Liebe“, sagt das Neue Testament. Und von dieser Liebe Gottes leben wir. Und ich habe die Erfahrung machen dürfen: Da, wo es wirklich ernst wird, lebe ich nicht von Gnade und Gerechtigkeit, sondern von erbarmender Liebe.
Eine Boulevard-Zeitung würde vielleicht so zusammenfassen:
Hier wird ein „gnadenlos“ liebender Gott verkündet. („gnaden-los“ in doppelter Bedeutung: hemmungslos und nicht gnädig!)
Eines möchte ich aber dennoch auch sagen: Wer mit dem „gnädigen“ Gott einen liebevollen, barmherzigen Gott verbinden kann, auch solche Theologen gibt es, dem möchte ich diese Gottesvorstellung nicht nehmen. Ich will nicht wieder arrogant, lieblos und egoistisch sein – wie vor 40 Jahren!
Mir aber ist diese Vorstellung fremd geworden. Und bei Martin Luther denke ich so: Er suchte den „gnädigen“ Gott und fand den barmherzigen, gütigen Gott. 
Zum Schlussteil! Aus den angekündigten vier Schlussworten wird wohl nichts werden. (Ich schreibe sie aber alle einmal auf, weglassen kann ich sie immer noch.) 
Schlusswort 1:
Für katholische Mitchristen, die heute hier sind, aber auch für uns Evangelische ist folgender ungewöhnlich formulierter, aber durchaus an einem Punkt auch zutreffender Vergleich zwischen unseren Kirchen ganz interessant.
Dorothee Sölle erzählt: Innerhalb der Theologiegeschichte gibt es einen elementaren und lange währenden Streit über die Beteiligung des Menschen an seiner Erlösung.
(Sind wir, wie die Synergisten meinen, an der Erlösung mitbeteiligt, oder müssen wir uns ganz auf das Handeln Gottes verlassen, wie der Monergismus lehrte?)
Ich will die beiden möglichen Antworten am Modell einer hinduistischen Religion, (der Bhakti), deutlich machen. Da wurde die „Affengriff“- von der „Katzengriff“- Schule unterschieden. Wenn eine Affenmutter in Gefahr gerät, klammert sich ihr Junges fest an sie, und indem die Mutter davonspringt, wird das Junge mitgerettet. Die Mutter handelt zwar, wie Gott an uns rettend handelt, aber das Affenjunge wirkt mit, indem es sich an die Mutter anklammert.
Ganz anders bei einer Katze: Wenn ihr Gefahr droht, nimmt sie das Junge ins Maul, das Kleine verhält sich passiv (still) und tut nichts zu seiner Rettung, alle co-operatio, alle Mitwirkung ist ausgeschlossen. Vielleicht gehören im Abendland die Katholiken zur Affengriff-Schule, während die Protestanten eher zur Katzengriff-Schule gehören.
(D. Sölle: „Gott denken“ S. 116)
 Schlusswort 2:
Ein zur Erheiterung geeignetes Schlusswort, aber mit Bezug zum Thema. (etwas geschraubt ausgedrückt!)
Vor einigen Jahren machten meine Frau und ich wieder einmal Urlaub im Tessin, in der italienisch sprechenden Schweiz.Meine Frau, sie kann ganz gut italienisch, las am Abend mal in einer dortigen Lokalzeitung und sagte plötzlich: Du, die suchen hier einen deutschen Pastor, einen „pastore tedesco“ (tedesco heißt „deutsch“ und pastore, klar, Hirte oder Pastor). Das wär’ doch was!
Dann las sie weiter und stutzte: Alle Impfungen seien Vorraussetzung, na gut, das konnte man zur Not verstehen, aber auch ein guter Stammbaum war erwünscht. Das war nun sehr komisch. Ein Blick ins Lexikon brachte Klarheit: Man suchte einen deutschen Schäferhund!!
(weggelassen: Schlußwort 3:
Ein kurzes Gedicht der Sehnsucht, das mir in den letzten Wochen in die Hände fiel, möchte ich noch weitergeben. Es hat mir sehr, sehr gut gefallen.         
Das schönste der Meere ist jenes,
          das wir noch nicht sahen.
Das schönste der Kinder ruht noch in bergender Wiege.
Die Tage, die schönsten sind jene,
die wir noch nicht lebten.
Und was ich dir sagen möchte, das Schönste,
ich habe es noch nicht gesagt.
 (von Nazim Hikmet; gefunden in: Anselm Grün: „Bleib deinen Träumen auf der Spur“ S. 220)
 Ja, besonders die letzten Worte dieses kurzen Gedichts haben mich unheimlich angesprochen und mich dann nicht mehr los-gelassen: Und was ich dir sagen möchte, das Schönste, ich habe es noch nicht gesagt. Und was ich Ihnen sagen möchte, das Schönste, ich habe es noch nicht gesagt.
Vielleicht so: Ich halte das Schönste nicht zurück. Ich kenne es einfach noch nicht. Ich weiß nur, ich spüre, dass es das Schönste gibt. Und in allem Nachdenken und Predigen bin ich auf der Suche nach diesem Schönsten, nach dem Wort, das die Augen öffnet für das Geheimnis Gottes,  –  nach dem Schönsten, was mein Leben und ein anderes Leben zum Strahlen bringt. Aber ich habe es noch nicht gefunden. Die Sehnsucht bleibt.
 Ich wünsche uns allen, dass uns irgendwann in einem Wort das Schönste aufleuchtet, das uns ganz nahe zu Gott bringt, oder wie es ein anderer (Anselm Grün) gesagt hat, das unser Leben in die unbeschreibliche Schönheit Gottes taucht. Und die wird große Ähnlichkeit haben mit dem Guten Hirten.)
 Schlusswort 4:
Margot Käßmann sagte nach ihrer schlimmen Verfehlung:
„Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“.
Und ich bin sicher, sie meinte damit die nahe, gütige, vergebende, liebevolle Hand unseres barmherzigen Gottes und nicht die gnädige Hand eines über den Welten thronenden und herrschenden Gottes. Und da kam mir der Gedanke: So soll Kirche sein, nicht mächtig und unantastbar, sondern gütig, vergebend, liebevoll und die Menschen suchend. Und so sollen wir sein – nein, ich denke, so sind wir, wenn wir Gottes Kinder sind.
Wie der gute Hirte!
Ja, ein wunderschöner Name für eine Kirche!
 Zum 40. Geburtstag herzliche Glück und Segenswünsche!
Amen.