Flüchtlinge
Predigt am 17.10.2015

 
 
 

ThemenPredigt am 17.10.2015 in Tiefenbach zu Flüchtlingen
Ich bin fremd gewesen – und ihr habt mich aufgenommen Mt 25,35

Seit Wochen und Monaten  gibt es in unserer Region, in unserem Land in der Europäischen Union ein politisches und menschliches Thema, das an erster Stelle steht.
Dieses Thema beschäftigt unser Denken, unsere politischen Diskussionen und stellt die Frage nach den Werten unseres Handelns.

Es ist die Frage nach dem Umgang mit den Flüchtlingen und Asylbewerbern, die nach Europa, nach Deutschland strömen.

Wie sieht die christliche Positionierung in diesem Fragenbündel aus?
Gibt es eine christliche Meinung?
Gibt es gar eine Lösung aus christlicher Sicht?

In der Rede vom Weltgericht weist Jesus deutlich auf die barmherzigen Taten eines Christenmenschen hin. Jedes Mal steckt hinter dem notleidenden Menschen auch ein Stück göttliche Sympathie, die mitleidet.

„Ich bin fremd gewesen .. und ihr habt mich aufgenommen.“

Viele zentrale Personen der göttlichen Heilsgeschichte im Alten Testament (AT) und im Neuen Testament (NT) waren Menschen, die unterwegs gewesen sind, die Fremdheitserfahrungen machen mussten.

Jesus, das kleine ungeborene Kind, ist in relativer Fremde unterwegs – dort, wo keine Verwandten und Freunde wohnen, suchen Maria und Joseph Herberge, Schutz, Unterkunft, um wenigstens für die Geburt dieses sonderbaren Kindes ein Dach über dem Kopf zu haben.

Abraham, der Urvater der drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam, verlässt in gut fortgeschrittenem Alter auf göttliche Verheiß seine Heimat und ist Fremder in dem verheißenen Land.

Sein Enkel Jakob verlässt nach dem Erbschaftsstreit mit Bruder Esau die elterlichen Zelte und geht in die Fremde, um dort Arbeit und Frieden zu finden.
Dessen (Lieblings-)Sohn Joseph wird von seinen zehn Brüdern an eine Karawane verkauft und nach Ägypten weggebracht und entsorgt.

In der Fremde geht es Joseph zunächst gar nicht gut – er landet ganz unten und im Gefängnis – ehe er mit seinen Traumdeutungen zum Retter von Ägypten wird.

Mose, schließlich, der „Prinz von Ägypten“ führt das versklavte Volk Israel in das Land, in dem Milch und Honig fließen – und wieder sind die Einwanderer Fremde, Eindringlinge.

Auch im Neuen Testament können wir Fremdheitserfahrungen finden, der galiläische Fischer Petrus in Rom, oder Paulus auf seinen Missionsreisen steht in der Fremde.

Fremdheitserfahrungen und Völkerwanderungen sind also ein nahezu organisches Wirken bei Menschen, die auf der Suche sind.

Die größte Völkerwanderung des 20. Jahrhundert hat nach dem Ende des II. Weltkrieges eingesetzt.

Bis zu 14 Millionen Menschen mussten ab 1945 ihre Heimat in Ost- und Ostmitteleuropa verlassen – die nun polnischen Gebiete jenseits von Oder und Neiße, Ostpreußen und die kulturell gemischten Randgebiete von Böhmen und Mähren, nun Teil der Tschechoslowakei, außerdem Ungarn, Jugoslawien und Rumänien. Es war die größte Völkerwanderung seit der Antike.
Willkommen waren die verarmten, oft fremd wirkenden Flüchtlinge nur selten.

In einer Studie des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung lässt sich zum Thema Migration und Entwicklung folgende Zusammenfassung finden:
Die neu gegründete Bundesrepublik wurde schon bald zum Einwanderungsland. Zwischen 1954 und 2006 zogen über 36 Millionen Menschen nach Deutschland, von denen 80 Prozent ausländischer Herkunft waren. Im gleichen Zeitraum verließen nur 27 Millionen das Land. Im Saldo kamen also neun Millionen.
Wenn die Wirtschaft boomt oder Schlagbäume fallen, steigen die Zuwanderungszahlen heißt es dort weiterhin.

Das BAMF betriebt eine eigene interessante und umfassende Homepage zum Thema Asylbewerber:

Im bisherigen Berichtsjahr 2015 wurden 274.923 Erstanträge vom Bundesamt entgegen genommen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 116.659 Erstanträge; dies bedeutet deutlich mehr als eine Verdoppelung der Antragszahlen (+135,7 %) im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der Folgeanträge im bisherigen Jahr 2015 hat sich gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreswert (19.380 Folgeanträge) um 47,2 % auf 28.520 Folgeanträge erhöht. Damit konnte das Bundesamt insgesamt 303.443 Asylanträge im Jahr 2015 entgegen nehmen; im Vergleich zum Vorjahr mit 136.039 Asylanträgen bedeutet dies mehr als eine Verdoppelung der Antragszahlen (+123,1 %).

Folgende Herkunftsländer waren im bisherigen Zeitraum Januar bis September 2015 am stärksten vertreten:
 Syrien mit 70.501 Erstanträgen, im Vorjahr mit 23.575 Erstanträgen auf Rang 1 (+199,0    %)
 Albanien mit 44.431 Erstanträgen, im Vorjahr Rang 5
 Kosovo mit 31.446 Erstanträgen, im Vorjahr Rang 11

Damit entfällt mehr als die Hälfte (53,2 %) aller seit Januar 2015 gestellten Erstanträge auf die ersten drei Herkunftsländer.

Entscheidungen und Entscheidungsquoten
Im Berichtsmonat September 2015 wurden Asylverfahren von 22.983 Personen (21.346 Erst- und 1.637 Folgeanträge) vom Bundesamt entschieden. Die meisten Entscheidungen wurden dabei für Syrien (6.126), Albanien (7.394), Serbien (1.463) und den Irak (1.228) getroffen.
Im Monat September lag die Gesamtschutzquote (Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention,) für alle HKL bei 39,6 % (9.106 positive Entscheidungen von insgesamt 22.983).

Mit diesen größten Zahlen von Asylbewerbern und Flüchtlingen seit dem II Weltkrieg gilt es ein ganzes Problemknäuel zu erfassen. Eine einfache Lösung verbietet sich angesichts der Komplexität dieses Problemfeldes, wie es Kanzlerin Merkel diese Woche auf der Pressekonferenz auch richtig darstellte.

Bleiben die Fragen nach der Grenze:

  1. Wo ist die Grenze der Aufnahmekapazität in Deutschland und gibt es eine?
  2. Wo ist die Grenze der Toleranz zwischen den intensiven Asylbewerberaufnehmerländern Deutschland und Schweden (mehr als 50%) und den restlichen  EU – Ländern?
  3. Wo liegt die Grenze zwischen Asylbewerbern aus politischen Gründen und Flüchtlingen aus wirtschaftlichen Gründen?
  4. Wo liegt die Grenze, politisch perspektivisch zu  denken und populistisch zu argumentieren?
  5. Wo liegt die Grenze der Belastung bei Bundespolizisten und ehrenamtlichen Helfern?
  6. Wo liegen die unterschiedlichen Grenzen von Empathie, Sympathie einerseits Abgrenzung andererseits in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen?
  7. Wo liegen die Grenzen der unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Religionen und Wertvorstellungen?

Eine einfache und schnelle Lösung angesichts dieses Pakets von Grenzfragen wird es sicherlich nicht geben.

Und auch der Hinweis auf die christliche Barmherzigkeit aus Mt. 25,35  kann nur ein Impuls sein:
„Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“
Freilich durch den persönlichen Kontakt, durch die menschliche Begegnung kann dieses politische und ethische Problem wieder eine ganz eigene Richtung bekommen.

Doaa aus Syrien                            Flucht über das Mittelmeer


Doaa nach ihrer Ankunft in Italien. Die dramatischen Ereignisse der Flucht über das Mittelmeer haben ihre Spuren hinterlassen. (Foto: UNHCR)

Bevor der Bürgerkrieg in Syrien sie zur Flucht zwang, war die 19-jährige Doaa eine ehrgeizige Schülerin. Dann floh sie mit ihrer Familie nach Ägypten. Ohne Arbeitserlaubnis lebte sie dort am Rande der Gesellschaft.
Trotzdem war Doaa hoffnungsvoll, sie war verliebt in Bassem, der um ihre Hand anhielt. Gemeinsam beschlossen sie Sicherheit in Europa zu suchen, um sich dort ein gemeinsames Leben aufzubauen. Bassem gab sein ganzes erspartes, 5.000 Dollar, den Schmugglern, die sie auf ein überfülltest Fischerboot zwängten.
Doaa kannte die Risiken
Doch nach drei Tagen auf See glaubte sie nicht mehr an eine sichere Ankunft und sagte zu Bassem: „Wir werden alle ertrinken“. Am vierten Tag kam ein verrostetes Boot auf sie zu. Die Passagiere weigerten sich in das seeuntaugliche Boot zu wechseln, woraufhin die wütenden Schmuggler ein Loch in das Fischerboot rammten und lachten.
Innerhalb von Minuten kenterte und sank das Boot. Die 300 Menschen, die unter Deck gefangen waren, hatten keine Chance zu überleben.
„Ich hörte wie Menschen schrien und sah wie ein Kind vom Propeller in Stücke zerrissen wurde“, erinnert sich Doaa. Um sie herum schwammen hunderte Leichen. Die Überlebenden kamen in Gruppen zusammen und beteten. Bassem fand ein Rettungsring für Doaa, die nicht schwimmen kann.
In der folgenden Nacht verloren viele Überlebenden die Kräfte und den Mut. Doaa musste zugucken, wie Männer ihre Rettungswesten abnahmen und ertranken. Einer von ihnen übergab Doaa kurz vor seinem Tod seine 9 Monate alte Enkelin Melek.
Auch Bassem verließen kurz darauf die Kräfte und Doaa musste mit ansehen wie er starb. Trotz unvorstellbarer Trauer nahm sie an diesem Tag ein weiteres Kind auf. Die Mutter der 18 Monate alten Masa gab ihr das Mädchen mit der Gewissheit, dass sie selbst nicht überleben würde.

Doaa war nun für zwei völlig erschöpfte Kinder verantwortlich, sie weinten, hatten Hunger und Durst. Sie sang für die Mädchen und erzählte ihnen Geschichten, ein langer Tag verging, dann ein weiterer. Am vierten Tag im Meer sah Doaa ein Handelsschiff. Zwei Stunden schrie sie um Hilfe, bis die Suchscheinwerfer des Schiffes sie fanden. Melek starb noch an Bord des Schiffes. Doch die kleine Masa hat überlebt.